FÜR ALLE STATT FÜR WENIGE

Bemerkungen von Hermann Engler zum Streitpunkt Lohnschutz

Dez. 5, 2022

Ein mit der EU koordinierter Lohnschutz ist wahrscheinlich effizienter als der
von den Gewerkschaften und Teilen der SP mit Klauen und Zähnen
verteidigte rein schweizerische, autonome Lohnschutz

Der SP-Europabericht «Aufbruch in ein soziales und demokratisches Europa; Strategie der SP
für die Schweizer Europapolitik» (vgl. obenstehende Zusammenfassung) Der Bericht
empfiehlt – m.E. gut begründet – einen  EU-Beitritt der Schweiz, nennt aber (im Gegensatz zu
früheren Entwürfen) kein Datum, bis wann dieses Ziel erreicht werden soll.

Ein Problem bei der Neuregelung der Beziehungen Schweiz/EU ist bekanntlich das Begehren
der Schweiz (vor allem der Gewerkschaften) nach einem von EU-Einflüssen völlig
unabhängigen, autonomen Lohnschutz. Die SP hat sich dieser Forderung angeschlossen;
einer Forderung, an der (neben einigen andern Sonderwünschen der Schweiz) eine stabile
Neuregelung der Beziehungen Schweiz/EU zu scheitern droht. Im SP-Europapapier kommt
dieses zurzeit wohl politisch wichtigste Europa-Problem der SP kaum zur Geltung. Man findet
nur einige bewusst zweideutige Formulierungen, mit denen sowohl die Gegner als auch die
Befürworter eines völlig autonomen rein schweizerischen Lohnschutzes leben können (z.B.
auf Seite 28 Pt.6 steht folgender zweideutiger Satz: «In diesem Sinne fordert die SP, dass die
Frage des Lohnschutzes und dessen Durchsetzung möglichst in der Zuständigkeit der
Innenpolitik liegt, in Abstimmung mit den andern europäischen Staaten und der EU-
Kommission.) Nur mit solchen Formulierungen ist es dem Europapolitische Ausschuss der SP
gelungen, das SP-Europa-Papier einstimmig zu verabschieden.

Während die Gewerkschaften (vor allem SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard und SGB-
Chefökonom Daniel Lampart konsequent (man kann auch sagen «stur») in ihrer
ablehnenden Haltung festhalten, scheint innerhalb der SP die Zahl der Befürworter:innen
eines europarechtskonformen Lohnschutzes zuzunehmen. M.E. wird die Frage des
Lohnschutzes in der schweizerischen Politik und in den Medien viel zu wichtig genommen:

– Von den in der Schweiz insgesamt geleisteten Arbeitsstunden werden weniger als 1%
von entsandten Arbeitnehmenden geleistet (d.h. von in die Schweiz entsandten
 Arbeitnehmenden mit einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland). Entsandte
Arbeitnehmende sind volkswirtschaftlich somit bei  weitem nicht so wichtig (und
bedrohlich) wie man nach der Lektüre von SGB-Stellungnahmen annehmen könnte.

-  Bei Lohnkontrollen können nur jene Mindestlöhne durchgesetzt und allenfalls
sanktioniert werden, die in einem allgemein verbindliche Gesamtarbeitsvertrag,
einem Normalarbeitsvertrag mit Mindestlöhnen oder einem kantonalem
Mindestlohngesetz (NE, JU, TI, BS) verankert sind. Diese Bedingung ist in der Schweiz
bei rund 50% der Arbeitnehmenden erfüllt. In Wirtschaftszweigen ohne allgemein
verbindliche Mindestlöhne kann ein im Ausland sitzender Arbeitgeber seinen in die
Schweiz entsandten Arbeitnehmenden Löhne bezahlen, die bei uns nicht orts- und
berufsüblich sind; bestraft werden kann er dafür aber nicht. Eine Sanktion würde dem Personenfreizügigkeitsabkommen widersprechen, da auch ein Schweizer
Arbeitgeber berechtigt ist, derart tiefe Löhne zu bezahlen. An dieser
unbefriedigenden Situation würde auch ein rein schweizerischer Lohnschutz, wie ihn
SP und SGB fordern, nichts ändern. Verbessert werden könnte die Situation nur
durch mehr allgemein verbindliche Lohnvorschriften, d.h. durch rein innenpolitische
Massnahmen, auf die die EU keinen Einfluss hat.

- Seit einigen Jahren schützen die EU-Mitgliedstaaten ihre Löhne nach dem gleichen
Verfahren wie die Schweiz. Um ihre Mitgliedstaaten bei Lohnkontrollen zu
unterstützen hat die EU eine Europäische Arbeitsmarktbehörde (ELA) geschaffen.
Diese kann u.a. auch Kontrollen am ausländischen Sitz eines Arbeitgebers
durchführen und verhindern und verhindern, dass Firmen durch Namensänderung
Sanktionen unterlaufen können. Einem rein schweizerischen Lohnschutzverfahren ist
dies unmöglich. Dazu wäre ein auf einem Vertrag EU/CH beruhender
europarechtskompatibler schweizerischer Lohnschutz nötig.

Im Interesse der Schweiz und ihrer Arbeitnehmenden sollten Gewerkschaften und SP ihre
Haltung zum Lohnschutz möglichst rasch und konsequent ändern.

In den letzten Monaten habe ich mich in einer kleinen, von Markus Notter (Zürcher  alt -SP-
Regierungsrat, Präsident des Europainstituts der Uni Zürich) geleiteten Arbeitsgruppe
intensiv mit dem Lohnschutz befasst. Am 6. Dezember 2022 (30. Todestag des EWR-
Abkommens) wird Markus Notter das Ergebnis der Arbeitsgruppe an einer grösseren
Veranstaltung an der Uni-Bern vorstellen. Bei dieser Gelegenheit wird auch ein Bericht
«Lohnschutz für alle – mit Europa» veröffentlicht. – Hoffentlich löst er etwas aus.

1.12.2022 Hermann Engler

Quelle Bild: Unsplash

 

Kommende Veranstaltungen